Begrifflichkeiten und historischer Kontext
Reichskristallnacht, Kristallnacht, Pogromnacht, Novemberpogrom, Reichspogromnacht, Novemberpogrome. - Welchen Begriff habt ihr in den letzten Tagen am häufigsten gelesen oder verwendet? – Im deutschsprachigen Diskurs wird häufig von der „Reichspogromnacht“ gesprochen. Ich bin jedoch der Meinung, dass der Begriff nicht passend ist, denn er impliziert, dass es sich nur um die Ereignisse einer Nacht handelt, obwohl die Pogrome tatsächlich aber in einigen Regionen schon am 7. und 8. November begannen und bis zum 9./10. November dauerten. Es kam vereinzelt auch noch bis zum 13. November zu Angriffen gegen Juden. Außer Acht gelassen werden dadurch auch die, ab dem 10. November einsetzenden Massenverhaftungen jüdischer Männer. Aus diesem Grund wähle ich für meinen Beitrag den Begriff „Novemberpogrom“. Die ebenfalls sehr bekannte Bezeichnung „Kristallnacht“ (oder „Reichskristallnacht“) wurde von der nichtjüdischen Mehrheitsbevölkerung verwendet. Der Begriff wird heutzutage eher gemieden, da er verharmlosend ist, indem er nur auf den entstandenen materiellen Schaden, die zerbrochenen Glasscheiben und Kristallleuchter, verweist. Ob der Begriff aus dem nationalsozialistischem Jargon entspringt ist umstritten. Propagandabegriffe wie „Judenaktion“ kann man jedoch eindeutig den Tätern zuordnen.
Wenn wir von den Novemberpogromen sprechen, befinden wir uns im Kontext der Radikalisierung des Antisemitismus im nationalsozialistischen Deutschland im Jahr 1938. Vorher schon kam es zu den ersten Massenabschiebungen von Juden und Jüdinnen polnischer Staatsbürgerschaft aus dem Deutschen Reich (Propagandabegriff der Täter: „Polenaktion“) Ab dem 28. Oktober 1938 wurden 17.000 Menschen gewaltsam über die deutsch-polnische Grenze abgeschoben. Herschel Grynszpan, der das Attentat in der deutschen Botschaft in Paris am 7. November 1938 verübte, zählte zu den Juden und Jüdinnen, die abgeschoben wurden. Im Zuge seines Attentats schoss er den deutschen Botschaftssekretär Erich Rath nieder. Das Attentat wurde als Vorwand gesehen, um gegen die jüdische Bevölkerung loszuschlagen. Hierbei ist für das umfassende Geschichtsbild jedoch sehr wichtig, dass bereits vor dem Attentat Übergriffe und Zerstörungen durch das NS-Regime vorgefallen sind. Die Idee, die jüdische Bevölkerung zwangsweise zu enteignen und zu arisieren (insbesondere jüdische Unternehmen – für die Finanzierung deutscher Aufrüstung), entstand jedoch nicht aufgrund des Attentats. Diesen Plan verfolgte das NS-Regime schon länger.
Schlagzeile: "Die Juden werden die Folgen für die feige Mordtat Grynszpans zu tragen haben!" -(Volkszeitung, Wien, Dienstag 8. November 1938)
Der Verlauf
Schon am späten Nachmittag des 7. Novembers kam es in einigen Regionen zu den ersten gewaltsamen Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung und Angriffe auf Synagogen, Wohnungen und Geschäfte. Nachdem Hitler mit seinem Propagandaminister Goebbels die Aktion besprochen hatte, ermächtigte dieser die Organisation der „spontanen“ Aktion gegen die Juden und Jüdinnen, wobei die Partei nicht als Organisator zu erkennen sein sollte. Fast alle Synagogen des Reichs wurden durch Brandstiftung zerstört. Das annektierte Österreich war ein Sonderfall, denn hier begannen die Ausschreitungen erst am 10. November. Im ganzen Reich kam es im Zuge der Pogrome zur Festnahme von 30.000 jüdischer Männern, die auf drei Konzentrationslager (Buchenwald bei Weimar, Dachau bei München und Sachsenhausen, KZ der Reichshauptstadt) aufgeteilt wurden.
Die Novemberpogrome werden auch als historische Zäsur gesehen, sie markieren nämlich den Übergang von der seit 1933 betriebenen Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung zu ihrer systematischen Verfolgung.
1918, 1923, & 1989
Wusstet ihr, dass am 9. November einige historische Ereignisse zusammenfallen? Wer von euch schafft es, sie anhand der angegebenen Jahreszahlen in der Überschrift zu erraten?
Zur Auflösung
9. November 1918
https://www.youtube.com/watch?v=odtUscFGJjA
9. November 1923
Am 9. November 1923 versuchte Adolf Hitler in München zum ersten Mal, politische Macht zu erlangen. Dabei erklärte er die Regierungen des Deutschen Reichs und Bayerns für abgesetzt und sich selbst zum Reichskanzler. Der Demonstrationszug der NSDAP am 9.11.1923 durch die Münchener Innenstadt wurde vor der Feldherrnhalle (daher auch »Marsch zur Feldherrnhalle«) durch die bayerische Polizei gewaltsam aufgelöst. Hitler wurde verhaftet.
9. November 1989
Fall der Berliner Mauer
Benutzte Quellen
- Michal Friedlander (2014), „Remember, remember ...“ – ein Tag im November. Über parallele Schichten historischer Ereignisse, die einander im Gedächtnis nicht tilgen sollten.
- Harald Schmid, Antifaschismus und Judenverfolgung: Die Reichskristallnacht Als Politischer Gedenktag in der DDR, Berlin 2004.
- Jüdisches Museum Wien, http://www.jmw.at/de
- Jüdisches Museum Berlin, https://www.jmberlin.de/